OFFENER BRIEF AN DIE PARTNERINSTITUTIONEN DER

MINSKER STAATLICHEN LINGUISTISCHEN UNIVERSITÄT

5. September 2020

Als Studierende, Alumni und Mitarbeiter der Minsker Staatlichen Linguistischen Universität (MSLU), einer öffentlichen Universität in Belarus, wenden wir uns an alle Partnerinstitutionen.

In den vergangenen Wochen wurden die friedlichen Massenproteste der gesamten belarussischen Nation durch Spezialeinheiten der Polizei brutal niedergeschlagen, nachdem oppositionelle Kandidaten inhaftiert, unabhängige Wahlbeobachter aus den Wahllokalen verbannt und lokale Wahlkomitees von den Behörden unter Druck gesetzt wurden, gefälschte Stimmzettel zugunsten des amtierenden Präsidenten Alexander Lukaschenko unterschreiben zu müssen. Diese eklatante Missachtung eines ordnungsgemäßen Wahlprozesses hat im ganzen Land eine Welle friedlicher Proteste ausgelöst, die mit Massenverhaftungen und brutaler Gewalt durch die Polizeikräfte und die mit dem amtierenden Präsidenten verbündeten paramilitärischen Kräfte beantwortet wurden. Jeder in einer Machtposition, der es wagte, sich gegen den Staatsterrorismus des Lukaschenko-Regimes auszusprechen, von kreativen Fachleuten und Kirchenführern bis hin zu Regierungsbeamten und Diplomaten, wurde seines Amtes enthoben oder zum Rücktritt gezwungen. Daher haben sich viele dafür entschieden, zu schweigen, weil sie um ihre Karriere, wenn nicht gar um ihr Leben fürchten.

Auch die Minsker Staatliche Linguistische Universität ist von den anhaltenden Unruhen betroffen. Am 1. September 2020, dem ersten Tag des Wintersemesters in Belarus, wurden Demonstranten größtenteils Studierende der MSLU die friedlich vor der Universität demonstrierten, von Spezialeinheiten der Polizei festgenommen; einige wurden von nicht identifizierten Milizen entführt.

Andere Studierende versuchten, innerhalb der Universität Zuflucht zu suchen, konnten jedoch zunächst wegen der verschlossenen Türen nicht reinkommen und wurden erst dann ungern hereingelassen, nachdem die Verwaltung von einer anderen Gruppe eingeschlossener Studenten um Hilfe gebeten worden war. In der Hauptlobby der Universität sahen sich die Studenten mit einem Mitglied der Verwaltung konfrontiert, das sie warnte, dass, wenn sie weiterhin gegen die gefälschten Wahlen und die Brutalität der Polizei protestierten, auch innerhalb der Universität verhaftet würden. Während die Studenten schließlich der Verhaftung entkommen konnten, indem sie das Gebäude durch einen anderen Ausgang verließen, bot der Vertreter der Universität keine Zusicherung, dass die MSLU alles tun würde, um die Inhaftierten und Entführten zu unterstützen. Stattdessen gab die Universität eine Erklärung heraus, in der die Studierenden aufgefordert wurden, die Proteste auf dem Universitätsgelände und in der Nähe der Universität einzustellen, was keinerlei Interesse daran zeigt, was mit denjenigen geschieht, die anderswo protestieren.

In den folgenden Tagen berichteten Studierende der MSLU über zahlreiche weitere Fälle, in denen sich Polizei und nicht identifizierte maskierte Milizen auf dem Universitätsgelände und in den Gebäuden der Universität aufhielten und die Protestierenden filmten und bedrohten. Weitere Studenten der MSLU wurden von den Milizen innerhalb der Universität brutal festgenommen, während die Verwaltung und das Sicherheitspersonal der Universität untätig blieb. Erst am 4. September beschloss die Rektorin, eine Dringlichkeitssitzung mit Studierenden und ihren Eltern abzuhalten, in der sie versprach, "die Situation zu untersuchen" und sich zu bemühen, weitere Verhaftungen innerhalb der Universität zu verhindern. Zu diesem Zeitpunkt klangen diese Worte für viele, die die eskalierende Brutalität der letzten Tage miterlebt hatten, hohl - vor allem angesichts der Tatsache, dass die fragliche Untersuchung offenbar vom Innenministerium geleitet werden sollte, das selbst an den Massenverhaftungen und der politischen Gewalt beteiligt war. Während wir diesen Brief schreiben, machen wir uns Sorgen darüber, was für diejenigen, die an der MSLU studieren und arbeiten, als Nächstes kommen könnte.

Als öffentliche Universität, deren Mitarbeiter faktisch Staatsbedienstete sind und deren Rektorin Natalia Baranova vom amtierenden Präsidenten persönlich ernannt wurde, genießt die MSLU nur sehr wenig akademische Freiheit und Schutz vor den potenziell schwerwiegenden Auswirkungen, die eine Missachtung der Forderungen des Regimes haben könnte. Wir verstehen die Besorgnis der MSLU-Beamten nicht nur um ihre eigene Karriere, sondern auch um die Zukunft der Universität selbst, die uns allen so viel bedeutet. Wir können jedoch nicht umhin, bestürzt darüber zu sein, dass die bisherige Reaktion der Universität einen Mangel an moralischer Führung gezeigt hat, die von denjenigen, die hier zu diesem Zeitpunkt studieren und arbeiten, so dringend benötigt wird. Die MSLU hat uns gelehrt, kritisch zu denken, und hat uns befähigt, zur Welt in ihren vielen Sprachen zu sprechen; jetzt schmerzt es uns zu sehen, wie ein Ort, der uns so sehr am Herzen liegt, es versäumt hat, für Gerechtigkeit, ein angemessenes Verfahren und grundlegende Menschlichkeit einzutreten.

Wir appellieren auch an die internationalen Partner der MSLU, sich an die Universitätsverwaltung zu wenden und nicht nur die anhaltende politische Gewalt in Belarus zu verurteilen, sondern auch das Versäumnis der MSLU-Führung, darauf zu reagieren und die eigenen Studierenden und Alumni sowie das eigene Lehrpersonal zu unterstützen.

Wir bitten Ihre Organisation, Stellung zu beziehen, denn auch wenn unsere Stimmen vielleicht nicht ausreichen, können Ihre Stimmen einen Unterschied machen. Als führende Institution der Nation im Bereich Fremdsprachen und internationale Studien ist die MSLU sehr stolz auf ihr internationales Netzwerk und ihre Zusammenarbeit mit Institutionen auf der ganzen Welt. Wenn diese Institutionen ihre Besorgnis über die Situation an der MSLU zum Ausdruck bringen und die Universität auffordern, ihr Volk über ihre politische Loyalität hinaus zu unterstützen, wird dies wesentlich dazu beitragen, die Studenten und das Lehrpersonal vor Verfolgung zu schützen und die Universität zu einem sicheren Hafen für Redefreiheit und politische Meinungsäußerung zu machen, wie es die Verfassung von Belarus garantiert.

Studierende, Alumni und Mitarbeiter der Minsker Staatlichen Linguistischen Universität.

Als gegenwärtige und ehemalige Studierende und Dozierende der MSLU haben wir einen offenen Brief an Rektorin Natalia Baranova verfasst, in dem wir die Universitätsleitung auffordern, endlich ihre Stimme zu finden und sich gegen die gefälschten Wahlen und zur Unterstützung friedlicher Demonstranten und Aktivisten, darunter vieler Studenten der MSLU, die unter der Gewalt des Lukaschenko-Regimes gelitten haben, auszusprechen. Der Brief wurde von über 2000 Menschen unterzeichnet (und es werden noch mehr) und ist hier erhältlich.


Anhang I. Nachrichtenberichte und Äußerungen internationaler Organisationen zu den Wahlen in Belarus 2020 und deren Folgen

  1. Prominente Figuren der belarussischen Opposition verhaftet im Vorfeld der Wahlen: (Die Zeit) https://www.zeit.de/politik/ausland/2020-08/minsk-demonstranten-festnahme-praesidentschaftswahl-belarus-alexander-lukaschenko

  2. Belege für Wahlfälschungen von 2020 (Kurier):
    https://kurier.at/politik/ausland/proteste-und-gewalt-in-belarus-opposition-will-wahlfaelschung-belegen/400996310

  3. So fälschte Belarus seine Wahl (NTV-DE): https://www.n-tv.de/politik/So-faelschte-Belarus-seine-Wahl-article21999878.html

  4. UN-Bericht dokumentiert 450 Fälle von Folter und Misshandlungen von Protestierenden durch Behörden in Belarus nach den Wahlen (Der Spiegel):
    https://www.spiegel.de/politik/ausland/belarus-uno-meldet-450-faelle-von-folter-und-misshandlung-a-df1f5fa0-124c-4f12-b8cc-deb34be58374

  5. Studierende schließen sich in Belarus den Protesten an, Festnahmen von Studierenden (Nau.ch): https://www.nau.ch/news/europa/nach-festnahmen-von-studenten-neue-proteste-in-belarus-65772869

  6. Erklärung von Vertretern der Wissenschaft zur Lage an den Universitäten und anderen wissenschaftlichen Einrichtungen in Belarus: www.dgo-online.org/gewalt-an-universitaeten-in-belarus/

  7. Die von der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde (DGO) initiierte Petition zur Lage an den Universitäten in Belarus: www.change.org/p/belarus-regierung-aliaksandr-luka%C5%A1enka-repression-an-universit%C3%A4ten-in-belarus

  8. Solidaritätsschreiben und Petition von internationalen Vertretern der Wissenschaft zur Lage an den Universitäten in Belarus: www.change.org/p/the-government-of-belarus-letter-of-solidarity-to-belarusian-students

  9. Prominent opposition figures arrested in Belarus as presidential election approaches: (Euronews) https://www.euronews.com/2020/06/03/prominent-opposition-figures-arrested-in-belarus-as-presidential-election-approaches

  10. Belarus poll workers describe fraud in August 9 election (Associated Press): https://apnews.com/72e43a8b9e4c56362d4c1d6393bd54fb

  11. Lukashenko's claim of landslide victory sparks widespread protests (The Guardian): https://www.theguardian.com/world/2020/aug/09/belarus-election-lukashenko-landslide-victory-fixing-claims

  12. UN rights experts express ‘outrage’ at Belarus police violence against peaceful protesters (UN News): https://news.un.org/en/story/2020/08/1070172

  13. Belarus: Internet Disruptions, Online Censorship (Human Rights Watch): https://www.hrw.org/news/2020/08/28/belarus-internet-disruptions-online-censorship

  14. Belarus sacked director for backing protests. His actors promptly resigned (Reuters): https://www.reuters.com/article/us-belarus-election-theatre/belarus-sacked-director-for-backing-protests-his-actors-promptly-resigned-idUSKCN25E29I

  15. Belarusian ambassador resigns after supporting anti-government protesters: (Euronews) https://www.euronews.com/2020/08/18/belarusian-ambassador-resigns-after-supporting-anti-government-protesters

  16. Scores Detained as Students March Against Belarus President (New York Times): https://www.nytimes.com/aponline/2020/09/01/world/europe/ap-eu-belarus-protests.html

  17. Belarus protests: Students held as marches mark new term (BBC News): https://www.bbc.com/news/world-europe-53984815

  18. Police drag Belarus students from university building, arrest five (Reuters): https://de.reuters.com/article/uk-belarus-election-protests-idAFKBN25V1UQ

  19. Belarus: Statement by High Representative/Vice-President Josep Borrell: https://eeas.europa.eu/headquarters/headquarters-homepage/84140/belarus-statement-high-representativevice-president-josep-borrell_en

  20. Belarus: Declaration by the High Representative on behalf of the European Union on the presidential elections: https://www.consilium.europa.eu/en/press/press-releases/2020/08/11/belarus-declaration-by-the-high-representative-on-behalf-of-the-european-union-on-the-presidential-elections/

  21. UK Statement: Belarusian Presidential Elections 2020: https://www.gov.uk/government/news/uk-statement-belarusian-presidential-elections-2020

  22. UN human rights experts: Belarus must stop torturing protesters and prevent enforced disappearances: https://www.ohchr.org/EN/NewsEvents/Pages/DisplayNews.aspx?NewsID=26199&LangID=E&fbclid=IwAR0TyJ3m6mmz5bntR7dK-lIPNTHeY2M8Y0vXCM6PHKcpaRTDlwmnz31Cz1g